Die neue Personalplanung in einer disruptiven Welt: Mehr als HR
Die immer schnelleren und disruptiven Veränderungen in zahlreichen Branchen erschweren für Personalmanager die Kalkulation des Personalbedarfs. Klassische Methoden helfen nicht weiter.
STEFFEN R. WIENBERG
CEO
Semikolon Consult GmbH
An ihre Stelle tritt ein kultur-basiertes Human Capital Management: Eine ebenso agile und individuell entwicklungsbezogene Vorgehensweise, um den dynamischen Veränderungen des (Arbeits-)Marktes gerecht zu werden.
Personalbedarfsmodelle veralten
Die alteingesessenen und gut vernetzten Unternehmensberatungen und klassischen Organisationsentwickler setzen in ihrer Beratung noch immer auf zahlenbasierte funktionelle Modelle, um den Personalbedarf zu ermitteln.
Dieses Fortschreibungsmodell ist historisch gewachsen und entspricht in gewisser Weise einer Deutschen Industrienorm. Genauso wie die eine oder andere DIN überholt ist, erfüllt das Vorgehen der Big Four nicht die Ansprüche moderner Unternehmensführung. Insbesondere mit Blick auf Agilität und Ansprüche neuer Bewerbergruppen, wie der viel diskutierten Generation Y und Generation Z.
Die Festlegung von aktuell und prognostizierten Functional Capabilities und die damit verbundene Budgetierung und Cost-for-Hire-Benchmark ist überholt. Moderne Arbeitgeber setzen auf „Hire for attitude, train for skills“. Sie entwickeln aufbauend auf der richtigen Einstellung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter notwendige Kompetenzen und Fertigkeiten.
In Zeiten disruptiver Veränderungen und der digitalen Transformationen spielen konkrete berufsfeldbezogene Fähigkeiten eine schwindende Rolle.
Es geht stattdessen um kulturelle und soziale Kompetenzen, die Mitarbeiter in die Lage versetzen, sich mit ihrem Arbeitgeber und den Aufgaben zu identifizieren. Diese Identifikation motiviert dazu, sich schnell in neue Berufsbilder einzuarbeiten. Ganz im Sinne des Vordenkers der modernen Managementlehre Peter F. Druckers: „Organisation ist ein Mittel, die Kräfte des Einzelnen zu vervielfältigen.“
Die klassische Personalplanung
Noch immer versuchen die konventionell agierenden Unternehmens- und Personalberatungungen bei großen Mittelständlern und Konzernen teils antiquierte Modelle zur Ermittlung des Personalbedarfs durchzusetzen. Diese sind etabliert und die Berater verdienen gutes Geld.
Aber was beinhalten diese Modelle?
Basis ist die Antizipation von Veränderungen im Unternehmen, Branchen und Märkten hinsichtlich der Ausbildung und fachlichen Kompetenzen für bestimmte Positionen. Bei ihrem Vorgehen zählen die Berater, wie viele Mitarbeiter das Unternehmen wann und mit welchen Skills benötigt.
Grundlegend haben diese Modelle in den letzten Jahrzehnten solide ihren Dienst verrichtet. Basis sind fortgeschriebene Erfahrungs- und Benchmarking-Werte der Unternehmensberatungen. In Teilen sind diese hochwissenschaftlich und sehr detailliert. Jedoch ist die Prognosefähigkeit fehleranfällig hinsichtlich der Datenbasis, der Erwartungshaltung zu neuen Technologien und des Planungshorizonts.
HR-Rechenmodelle verlieren an Aussagekraft
Denn die multivariaten Rechen-, Explorations- und Vorhersagemodelle und Simulationen zeigen sich instabiler. Die zunehmend unberechenbarere Umwelt und letztendlich die Innovations- und Veränderungsdynamik in den Technologien und der Datennutzung erhöhen sich massiv.
Anstelle der planungssicheren Stabilität tritt eine VUCA-Situation. Damit einher geht die Veränderung des Bezugsrahmens und der zugrundeliegenden Datengrundlage in Gesellschaft, Politik und Umwelt. Beispiele für diese Unberechenbarkeit nehmen auf bundesdeutscher und EU-Ebene zu. Eine schnelle Liste umfasst DSGVO, Dieselfahrverbote, Atomausstieg, Grenzöffnung, Entsenderichtlinie, Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg. Diese haben mittelbar Auswirkungen auf Unternehmen. Direkt wirken technologische oder ökologische Entwicklungen auf die konkrete Arbeit.
„Alles auf null!“ lautet die Botschaft an die tradierte Fortschreibungsmethode. Es kommt weniger auf das Sammeln und den Zugriff vergangenheitsbezogener Daten als vielmehr auf die Schaffung eigener hermeneutischer Veränderungsaktivitäten hinsichtlich sozialer und kultureller Kompetenzen an.
Einige Personaler fordern sogar eine Neubesetzung des Begriffes HR: vom Human Resources Management hin zum Human Relations Management.
Der individuell ausgestalteten Beziehung zu jedem Mitarbeiter und deren potentialbasierten Förderung. Erst darauf bauen Functional Capabilities auf.
Anforderungen an eine moderne Personalplanung
Zusammenfassend lassen sich drei zentrale Herausforderungen an die zeitgemäße HCM-Arbeit von Personalern identifizieren:
Herausforderung 1: Stabilität der Personalplanung
Die bisherigen Modelle setzen auf einer mehr oder minder konstanten Umwelt auf. Die massive Veränderung von Aufgaben und Berufsbildern antizipieren diese Fortschreibungs- und Progressivitätsmodelle oftmals nur unzureichend.
Laut einer Studie des World Economic Forums ist davon auszugehen, dass angehende Studierende zu rund 65 Prozent in Berufsbildern arbeiten werden, die heute noch nicht existieren. Wenn dieser These folgend die vorhandenen, auf der stabilitätsorientierten Personalarbeit aufsetzenden Modelle Anwendung finden, kann eine valide und praxisnahe Planung nur schwerlich erfolgen.
Daraus ergibt sich die Forderung an die agilere Antizipation und individuellere Planungsmodelle. Diese ersetzt die tradierte Exploration auf Systemebene.
Herausforderung 2: Kulturelle und soziale Passung der Mitarbeiter
Ein modernes HCM legt vor den Functional Capabilities die Cultural Capabilities fest. Diese zu definieren, erfordert ein holistisch-strategisches Vorgehen des Gesamtunternehmens. Der Personalplanung kommt damit weniger eine die Vorgaben erfüllende Funktion in der HR zu.
Es ist Teil der Arbeitgebermarke und gestaltet diese mit. Dadurch erhöht sich die Relevanz für den Unternehmenserfolg durch eine starke, glaubwürdige und perspektivstiftende Arbeitgeberidentität. Diese trägt zur positiven Wahrnehmung und Bindung bei passenden Mitarbeitern bei. Grundlage für ein modernes HCM ist die Analyse der Unternehmenskultur und der Arbeitgeberpositionierung im Employer Branding-Prozess.
Basis ist die identitätsbasierte Markendefinition. Der Fokus liegt dabei auf Einstellungen und Beziehungen von Führungskräften und Mitarbeitern zu ihrem Arbeitgeber:
- Welche wirklichen Werte existieren im Unternehmen?
- Welche Faktoren machen das Arbeiten für genau dieses Unternehmen attraktiv?
- Was erwarten Mitarbeiter für sich von ihrem Arbeitsplatz und ihren Karrierewegen?
Erst wenn ein Arbeitgeber diese Fragen klar beantwortet, kann ein HCM solide strukturiert, entwickelt und kommuniziert werden.
Herausforderung 3: Interdisziplinäre Personalplanung
Durch die Explosion der Differenziertheit und multioptionalen Umsetzung können Arbeitgeber eindeutige Berufsbilder kaum noch beschreiben.
Spezialisten besetzen Nischen, sind jedoch teuer. Aufgrund der hohen Heterogenität von betrieblichen Angeboten und Spezifikationen in der individuellen Unternehmenssphäre ist kaum noch eine lineare (Karriere-)Planung möglich. Das eigene Leistungsspektrum des Unternehmens variiert ebenso wie die volatile Entwicklung auf Marktseite.
Somit sind Arbeitgeber gefordert, generalistische Gestalter anstelle dezidierter Fachexperten zu entwickeln. Der Weg führt weg vom Silodenken hinzu zu T-Shape vernetzten Mitarbeitern.
Image der alten Personalbedarfsplanung
Warum diese drei Herausforderungen in der aktuellen Praxis oftmals nicht ausreichend Berücksichtigung finden, ist dem Umstand geschuldet, dass die alten Methoden und Verfahren gerade vom Image der großen Unternehmensberatungen leben.
Das Vertrauen ist ungebrochen.
Aber HCM bedeutet heute mehr als nur die Verwaltung von Personalstammdaten.
Dazu ist eine neue Eigenwahrnehmung der Personalabteilungen notwendig, sich stärker als Gestalter der Arbeitgebermarke und damit des Unternehmens zu sehen.
Strategische HR: Moderne Personalplanung
Wichtige Erkenntnis ist, dass ein modernes HCM sich nicht auf die Verwaltung von Ressourcen konzentriert.
Das System kümmert sich symbiotisch um die Aus-, Fort- und Weiterbildung der innerbetrieblichen Kompetenz. Es basiert stärker auf den kulturellen und sozialen Faktoren der Mitarbeiter als auf den berufsfeldbezogenen Aufgaben. Unternehmen mit einer hohen Lerndynamik sind erfolgreicher am Markt.
Diese Kombination ist komplizierter zu erfassen, bietet dafür jedoch Wettbewerbsvorteile durch eine agile Personalplanung und die Nutzung von „schlummernden“ Chancen in der Belegschaft.
So gelingt eine bedarfsgerechte und zukunftssichernde Personalarbeit: Personalplanung-Verantwortliche entwickeln mit der Belegschaft individuelle, dynamische und attraktive Career-Tracks und Entwicklungsperspektiven, gepaart mit innovativen Fortbildungsmöglichkeiten. Nicht linear, sondern querschnittlich. So erfüllen Unternehmen immer wieder aufs Neue die Markterfordernisse.
Ein dezidiertes Talentmanagement dient der operativen Umsetzung und ist Attraktivitätsfaktor (gerade) für jüngere Generationen.
Bildrechte: Lukas / pexels.com